Der Walisische Rote Drache im Burghof vom Castle in Cardiff
Von Ronald Keusch
Gälisch auf der Autobahn
Wales liegt im Westen der Insel Großbritannien und gehört zum United Kingdom of Great Britain. Im Osten grenzt Wales an England, mit dem es seit Jahrhunderten historisch und kulturell eng verbunden ist, aber zugleich seine walisische Sprache und Identität behauptet. Ein deutliches Zeichen dafür sind die unzähligen Verkehrsschilder an den Straßen und Autobahnen in Wales. Es bedarf keiner Plakatwand an der Landesgrenze „Welcome in Wales“. Jeder Meter auf Waliser Gebiet ist sofort erkennbar, weil zweisprachig beschildert. Das englische Wort „caution“ wird ergänzt durch „gofal“, die Längenangaben „yards“ und „mile“ durch „llath“ und „filltir“. Und natürlich tauchen auch die Namen der Städte zweifach auf, bei Cardiff steht auch Caerdydd. Was dem Besucher äußerst fremd daher kommt ist die Waliser Sprache: Walisisch-gälisch, eine alte keltische Sprache, auch Kymrisch genannt. Wenn schon mancher Traum der Autonomie in der Geschichte der Nachbarschaft mit dem mächtigen Königreich England verflogen ist, hier auf der Autobahn wird sie gefeiert. Keine Meilen-Schild, kein Yard-Schild wird ausgelassen – wenn schon, denn schon. Von den etwa drei Millionen Walisern soll immerhin jeder Fünfte noch Walisisch sprechen. Damit gehört sie zu der meistgesprochenen keltischen Sprache weltweit.
In der Vergangenheit haben viele Kulturen ihre Spuren in den Landschaften von Wales, in den Bergen und an seinen Küsten hinterlassen. Über Jahrtausende kamen und gingen Kelten, Römer, Sachsen, Wikinger, Normannen. Eine ihrer Hinterlassenschaften – die Burgen – sind heute ein Hauptanziehungspunkt für den Tourismus. Insgesamt thront auf Waliser Erde – also einem vergleichsweise kleinen Gebiet, ungefähr so groß wie das Bundeslandes Sachsen-Anhalt – die unglaubliche Zahl von sechshundertvierzig (!) Burgen. Nirgendwo auf der Welt ist die Burgendichte höher. Man stelle sich vor, an jedem Tag eine von den Burgen zu besuchen, dann hätte man nach einem Jahr und neun Monaten alle gesehen. Mit dem Bestaunen seiner Burgen wählt der Besucher einen spannenden Weg, Wales und seiner Bewohner näher kennenzulernen.
Grüne Wales-Landkarte im Burghof
Eine der berühmten Burgen steht an der Küste von Südwales in Pembroke, dem Geburtsort von Heinrich VII., König von England. Er ist der erste Tudorkönig, wie ein Tourismus-Prospekt stolz verkündet. Dazu musste er im Jahr 1485 den durch Shakespeare berühmt dramatisierten Richard III. in der Schlacht bei Bosworth besiegen und sich dann krönen lassen. Pembroke besitzt auch für das Land der Burgen Wales eine sehr beeindruckende Anlage. Die Festung wurde im 11. Jahrhundert errichtet. Wehrgänge und Passagen führen von Turm zu Turm. Wie es sich gehört, gibt es neben der großartigen Aussicht auch einen Verliesturm mit einer finsteren Kerkerzelle. Auf dem Erdboden des großräumigen Burghofes ist in den grünen Landesfarben Wales mit einigen seiner spektakulären Burgen-Anlagen aufgezeichnet, zur Freude der Kinder und zur Erbauung der Erwachsenen.
Nicht nur die oft mehr als tausendend Jahre alten sehenswerten Wehranlagen aus Felssteinen illustrieren die wechselhafte Historie. Auch eine kleine urzeitliche Kapelle in den Klippen am Strand schrieb Geschichte – die St. Govan’s Chapel. Sie liegt am St. Govan’s Head, dem südlichsten Punkt an der Küste von Pembrokeshire im Südwesten von Wales. Teile der kleinen Kapelle sollen aus dem sechsten Jahrhundert stammen, als der Heilige Saint Govan hier eine Einsiedelei errichtete, nachdem er der Verfolgung von Piraten entkommen war. Der Legende nach öffneten sich die Felsen und schlossen sich dann hinter ihm und hielten ihn versteckt, bis seine Verfolger verschwunden waren. Eine steile Treppe führt zu der kleinen Kapelle hinab.
1400 Kilometer langer Küstenwanderweg
St. Govan’s Head und die benachbarten spektakulären Felsen der „Green Bridge“ und der „Stack Rocks“ liegen an einem der schönsten Küstenwanderwege der Welt, dem 1400 Kilometer langen Wales Coast Path. Die Idee zu diesem Wanderweg entstand um das Jahr 2000 und in einer beispiellosen Anstrengung wurden vorhandene Wege ausgebaut, der Zugang zur Küste gesichert und die Küstenabschnitte weiter touristisch erschlossen. Im Jahr 2012 wurde der Weg offiziell eröffnet.
Allein 300 Kilometer des Wanderweges führen durch Pembrokeshire. Auf dem Weg liegt auch die westlichste Stadt von Wales und die kleinste „City“ Großbritanniens, St. Davids. Sie hat nur etwa 1800 Einwohner, beherbergt aber die größte Kathedrale von Wales und ist Bischofssitz. Die Klostergemeinschaft wurde bereits im 6. Jahrhundert vom heiligen David gegründet.
Der Bau der heutigen Kathedrale im normannischen Stil begann im 12. Jahrhundert, allerdings wurde die Kathedrale über die Jahrhunderte häufig geplündert und beschädigt und der Turm stürzte auf Grund statischer Mängel mehrfach ein. Im Inneren der Kathedrale beeindruckt das Kirchenschiff mit einer prächtigen Holzdecke und kunstvoll geschnitzten Pendel-Leuchten.
Nahe dem kleinen Örtchen Angle steht schon die nächste Burg auf einer Insel, das Thorne Castle. Es wurde erst Mitte des 19. Jahrhunderts als Fort gebaut, um die Wasserstraße zum Milford Hafen zu verteidigen. Der vorgelagerte Strand von West Angle Bay gehört zu den schönsten Badestränden. Bei Flut ist er schmal und eher unscheinbar, aber bei Ebbe kommt ein weiter Strand mit feinem goldenen Sand zum Vorschein.
Jede Menge Abwechslung bieten die Fahrten auf den schmalen, zumeist nur einspurigen Küstenstraßen, umrahmt von den ewigen mannhohen Hecken und Schiefermauern. Sie bieten auch für den erprobten Linksfahrer einiges an Abenteuer, denn der Gegenverkehr ist – ähnlich wie auf den Küstenstraßen in Irland oder Schottland – bei den vielen Kurven nur kurz vor einem Aufeinandertreffen zu sehen.
Die Burgen Dinefwr und Carreg Cennen
Auf dem Weg nach Cardiff warten zwei weitere imposante Burgen und das, was über die Jahrhunderte und Jahrtausende von ihnen noch übriggeblieben ist, auf seine Besucher. In der Nähe der wenig bekannten kleinen Ortschaft Llandeilo in Südwestwales befindet sich die viel bekanntere Burg Dinefwr. Die heutige für Touristen ausgebaute Burg-Ruine war im 12. Jahrhundert die wichtigste Residenz des ersten Waliser Königreiches. Sie wird umgeben von einem großen Parkgelände mit einem Hirsch-Gehege sowie einem kleinen See und sehr romantischen Waldwegen.
Überall grasen Schafe mit flauschigen Osterlämmchen und die seltenen weißen englischen Parkrinder (White Park Cattle). Nördlich der Burg steht das Newton House, ein Herrensitz aus dem 15. Jahrhundert. Es wurde im 17. Jahrhundert umgestaltet im neugotischen Stil und sieht very britisch aus. Der Name hat nichts mit dem britischen Universalgelehrten Isaac Newton zu tun, sondern hat seinen Ursprung im Namen des von englisch-stämmigen Siedlern an dieser Stelle gegründeten Dorfes, die den Ort schlicht „New Towne“ – neue Stadt – nannten.
Nur knapp sieben Kilometer in südöstlicher Richtung gibt es eine weitere bekannte Burganlage, die noch imposanter und exponierter in die Landschaft gesetzt wurde. Die Burg Carreg Cennen im Brecon Beacon National Park steht einsam auf einem einhundert Meter hohen Kalksteinfelsen, düster und geheimnisvoll. Unterschiedliche Eigentümer und mehrere Kriege verwandelten auch diese stolze Burg in eine Ruine, deren Türme und Mauern von den Besuchern noch zu erklimmen sind.
Sie werden belohnt mit wunderschönen Ausblicken in eine bäuerlich-ländliche Umgebung. Historiker sprechen davon, dass bei den ersten Bauten der Burg Ritter an König Arturs Tafelrunde Hand angelegt haben.
Zur Erholung von den „Burg-Strapazen“ laden englisch geprägte Pubs zu einem Abendessen ein, auf dem Waliser Gerichte auf der Karte stehen. Vorspeise Welsh Rarebit (Brote mit geschmolzenem Käse), Lamb Cawl (ein Eintopf aus Gemüse und Lammfleisch) sowie Welsh Sausage und Mash (Wurst mit Kartoffelpüree). Alles sehr schmackhaft. Und darauf ein Guinness.
Zwei Gentlemen mit Geld und Fantasie
Die eindrucksvolle kolossale Burg liegt mitten in Cardiff und prägt die Stadt als der unbestritten erste Anziehungspunkt für die Besucher. Auch sie bietet fast 2.000 Jahre Geschichte, von der Eroberung der Römer und der Normannen über die Turbulenzen in Bürgerkriegen um die Macht bis hin zu den Auswirkungen bei Luftangriffen im Zweiten Weltkrieg. Da dienten großflächige Ausgrabungen aus der Römerzeit dazu, Luftschutzkeller für die Bevölkerung einzurichten. Im Vergleich zu anderen Burg-Anlagen in Wales hat das Cardiff-Castle sehr viel mehr zu bieten.
Das ist zwei legendären Gentlemen aus dem 19. Jahrhundert zu verdanken. Zum einen dem damaligen Eigentümer John Crichton-Stuart, dem 3. Marquess von Bute, und dem schottischen Architekten William Burges. Der Marquess soll zur damaligen Zeit einer der reichsten Männer auf der Welt gewesen sein und der Architekt einer der genialsten und extravagantesten Könner seines Faches. Aus dieser Melange entstanden herausragende Meisterwerke viktorianischer Baukunst im neo-gotischen Stil mit aufwändigen und fantasievollen Details. Zur Freude der Fachwelt wie der Touristen. Mit Geld und Kreativität wurde eines der schönsten Märchenschlösser errichtet. Einige Beispiele dafür werden schon in den Außenanlagen geliefert. So ist der 40 Meter hohe Glockenturm mit ausgefallenen farbigen Verzierungen und auffälligen bunt gekleideten Figuren geschmückt, die die Himmelskörper des Sonnensystems symbolisieren.
Schon außerhalb der Burg wird der Besucher von einer originellen Burg-Mauer überrascht, der „Wall of Animals“. Es heißt, dass der Schlossherr ursprünglich einen Zoo mit wilden Tieren errichten wollte, was von der Stadt als zu gefährlich abgelehnt wurde. Burges kam dann auf die Idee, neun wilde Tiere als Steinskulpturen auf die Mauer zu setzen, die sich scheinbar von der Mauerkrone auf den Betrachter stürzen. Aus neun Tieren wurden dann schließlich fünfzehn. In den 1970er Jahren plante der Stadtrat den Abriss der Tiermauer, um die Castle Street weiter zu verbreitern, doch die Idee wurde später wieder verworfen – zum Glück, denn heute gehört die Tiermauer zu den am meisten fotografierten Sehenswürdigkeiten von Cardiff.
Dekorationen wie im Märchenschloss
Richtig märchenhaft geht es dann weiter in der Ausgestaltung der Innenräume. Ein Fest für die Augen ist der Arabische Raum. Mit üppigen maurischen Elementen dekoriert, besonders sichtbar in den gold-glänzenden Schnitzereien an der Decke, ist der Anblick atemberaubend. Ebenfalls fasziniert die Ausgestaltung des Bankettsaals. Geschnitzte Engel und originelle Wandbilder mit historischen Motiven sind zu sehen sowie Dudelsack spielende Schweine in einer Ecke des Raums.
Im Audioguide erfährt man unter anderem, dass beispielsweise die viele Jahre in der Küche arbeitenden Mägde niemals in ihrem Leben die Märchenzimmer ihrer Herrschaften je zu Gesicht bekommen haben. So waren damals die Regeln der englischen Herrschaften. Dazu eine Schlusspointe zum Wandel der Zeiten. Im Jahr 1947 vermachte ein Nachkomme der Adelsfamilie das gesamte Anwesen der Stadt Cardiff. Nachdem zunächst eine Kunst- und Musikschule als neue Mieter einzogen, steht die Anlage seit 1974 allen Besuchern offen, auch den Ururenkeln der Küchenmägde aus dem 19. Jahrhundert. Die Burg lädt seit knapp 50 Jahren nun vor allem auch die Wales-Touristen zu Entdeckungen ein.
Traditionsgeschichte Waliser Soldaten
Aus gegebenem Anlass noch ein Hinweis auf die Burg-Ausstellung „Firing Line“, die über die Traditionsgeschichte Waliser Soldaten unter britischen Fahnen erzählt. Es ist nicht ungewöhnlich, eine Burg als Ort der Präsentation von Waffen und Feldzügen auszuwählen. Für den deutschen Besucher ist es doch etwas überraschend, wie eine Vielzahl von langjährigen schonungslos geführten Kolonialkriegen des britischen Imperiums in aller Welt unter der verklärenden Überschrift stehen kann: „The Imperial Burden“.
Auch bei den Kolonialkriegen der USA am Golf, auf dem Balkan in Bosnien, im Irak und in Afghanistan waren die Soldaten aus Wales mit dabei. Und welche Assoziationen werden gegenwärtig hervorgerufen mit dem Hinweis, dass britische Waliser Soldaten im Krimkrieg von 1854 bis 1856 vor Sewastopol am Schwarzen Meer kämpften? Wie man erfahren kann, befinden sich heute wieder NATO-Offiziere, darunter auch Briten, in Mariupol in Bunkern am Schwarzen Meer und führen Kriege.
Promenieren an der Cardiff Bay
Besonders stolz, und das völlig zu Recht, ist die Hauptstadt von Wales Cardiff auf ihre Cardiff Bay. Mit dem Absturz der einst pulsierenden Industriestadt und seinem großen Hafen, der zu Anfang des 20. Jahrhunderts jährlich 9 Millionen Tonnen Kohle umschlug, verwahrloste das Hafenviertel und es entstand eine Industriebrache. Vor 30 Jahren startete ein großes Revitalisierungs-Projekt, Docks wurden zugeschüttet und mit modernen Wohnvierteln bebaut: Es entstand die Cardiff Bay, ein durchweg lebendiger und attraktiver Stadtteil.
Zwei der Sehenswürdigkeiten zeigen hier, wie die Waliser ihre Tradition und Geschichte gekonnt in die Gegenwart holen. Da steht an den Docks eine kleine norwegische Seemanns-Kirche, errichtet im 19. Jahrhundert für norwegische Seeleute. Hier wurde auch der für seinen feinen schwarzen Humor bekannte britische Schriftsteller Roald Dahl – ein Kind norwegisch-stämmiger Eltern – getauft. Die Kirche ist heute ein modern gestaltetes Kulturzentrum mit Ausstellungen und Konzerten. Dominierend an der Cardiff Bay ist ein großer neugotischer Backsteinbau, das Pierhead Building. Um die Jahrhundertwende von der Bute-Adelsfamilie errichtet, damals als Sitz der Bute Dock Company, dann der Railway Company und später der Hafenverwaltung, ist das Gebäude ein Symbol für das Waliser Selbstbewusstsein.
Davon zeugt auch der aus dem Gebäude emporsteigende Glockenturm, die Uhr wird auf Grund ihrer Ähnlichkeit zum Londoner Big Ben auch inoffiziell „Baby Big Ben“ genannt oder „Big Ben of Wales“. Noch mehr an den Big Ben des Londoner Parlamentsgebäudes wird man allerdings erinnert, wenn man den Glockenschlag des Rathauses von Cardiff hört. Er spielt auch die unverkennbare Westminster Glockenmelodie. Dann scheint die Autonomie von Wales seine Grenzen erreicht zu haben.
Fotos: Ronald Keusch
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