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The Show Must Go On – 70 Jahre „Die Distel“ mit entschärften Stacheln

VonRedaktion

Okt 6, 2023

70 Jahre Kabarett-Theater DISTEL

Von Ronald Keusch

Bei meinem Besuch im Oktober vor fünf Jahren zum 65. Jubiläum wünschte ich der Distel mit den vielen Kabarettfreunden im Lande, dass sie satirisch die Probleme tiefer ausloten möge. Denn nur dann bleibt sie jung und muss nicht fürchten, in die Staats-Rente geschickt zu werden. //www.keusch-reisezeiten.de/post/2018-10-theater-odyssee-in-der-distel). Nun, einige Jahre und ein paar Programme später, stellt sich immer noch oder schon wieder die Frage: Wie kritisch darf politisches Kabarett sein?

„Morgen lachen wir drüber“

Plakat der Jubiläums-Show Fotos © Andrey Kezzyn

Die Probleme in Deutschland liegen offen und für jedermann sichtbar zutage, trotz wachsender Propaganda-Verschleierung: Die Wirtschaft im Sturzflug, ein marodes Schulsystem, bankrotte Kommunen, fehlender Wohnraum und ein chronisch krankes Gesundheitswesen – ein nahezu ideales Feld für das politische Kabarett. Die Zeit schreit nach Satire – unüberhörbar. Ist nun das neue Programm „Morgen lachen wir drüber“ mit seiner Premiere am 2. Oktober eine Ehrenrettung, auch für die übergroße Mehrheit des heutigen politischen Kabaretts in Deutschland? Oder gibt es einen Tag vor dem gesetzlichen Feiertag einen humorvollen Rückblick auf die verpassten Chancen von 32 Jahren deutscher Einheit?

Programm nah am Zeitgeist

Eine Antwort darauf gibt bereits vor der Premiere Regisseur Dominik Paetzholdt im Programmheft: „In ihren 70 Jahren hat sich die DISTEL immer wieder neu erfunden. Auch mit diesem Programm möchten wir neue Wege gehen und nah am Zeitgeist sein.“ Und mein Resümee nach der Vorstellung: Das Programm ist nicht nur nah am Zeitgeist, es verkörpert nahezu den rot-grünen Zeitgeist in einer Kabarett-Show – nomen est omen.

Endlich Visionen! Premierenplakat vom 10.2013 zum 60.Jubiläum

Die Inszenierung ähnelt einer Revue, in der die Texte den herrschenden Zeitgeist in Medien und Kulturlandschaft widerspiegeln. Kritik bleibt an der Oberfläche und arbeitet sich zumeist an Klischees ab. Aus dem politischen Kabarett, das sich selbst als „Stachel am Regierungssitz“ bezeichnet, wurde nach und nach ein Kabarett-Theater, heute also eine Kabarett-Show, und irgendwann könnte dann auch der Begriff Kabarett gänzlich verloren gehen. Und ihre Stacheln hat die Distel auch eingezogen. Sie tut nicht weh.


Revue-Kabarett mit viel Spott

An vielen Stellen der Premiere blitzt das Talent des Autors Thomas Lienenlüke für Satire und absurde Situationen auf. Schließlich wurde mit dem gebürtigen Westfalen und Wahl-Rheinländer aus Köln ein hochkarätiger und erfahrener Kabarett-Texter für dieses Jubiläumsprogramm engagiert. Lienenlüke hat sich schon seine Sporen bei Satire-Formaten im Fernsehen und dem Kabarett-Oldie „Nockherberg“ verdient.

v.l. Rüdiger Rudolph, Stefan Martin Müller, Frank Voigtmann © Chris Gonz

So nimmt sich das Kabarett-Theater scheinbar als Revue-Kabarett am Anfang selbst auf den Arm, in dem es mit Tanz-Hand-Akrobatik das Ballett Schwanensee aufführt. Dann folgt eine Szene mit Spott und Witz über Besserwisser und Moralisierende. Zwei Ensemble-Mitglieder spielen Publikum mit immer lauter werdenden klugen Ratschlägen aus dem Parkett, kommen dann sogar auf die Bühne. Das ist nach dem Geschmack des Autors, der keinerlei Jubiläums-Stimmung aufkommen lassen will und absurde Szenen sucht.

v.l. Rüdiger Rudolph, Stefan Martin Müller, Nancy Spiller | Foto: © Chris Gonz

So das nächste Bild mit einem Handwerker, Installateur von Wärmepumpen, der bis ins Jahr 2027 voll ausgebucht ist und gerade einen freien Termin hat, weil sich ein Kunde an seinem Heizungsrohr erhängt hat.


Viel Raum, um sich komödiantisch zu entfalten

Alle diese bewegten Szenen auf der Bühne bieten dem Kabarettisten-Ensemble viel Raum, sich komödiantisch zu entfalten. Das gelingt insbesondere Caroline Lux, Timo Doleys (der sich als Merkel-Parodist in Erinnerung gespielt hat) und dem Distel Urgestein Stefan Martin Müller mit ihrer langjährigen Erfahrung sehr gut. Den neuen Ensemble-Mitgliedern Nancy Spiller, Rüdiger Rudolph und Frank Voigtmann fiel es da sichtlich schwerer, die hervorragenden Schauspieler der Distel Dagmar Jaeger und Michael Nitzel, die vor kurzem in den Ruhestand verabschiedet wurden, ebenbürtig zu ersetzen.

Zeitgeist nimmt im Programm Fahrt auf

Im Laufe des Programms nimmt der Zeitgeist immer mehr Fahrt auf und führt gewollt oder ungewollt beim 70jährigen Jubiläum zu den Anfängen als Staats-Kabarett zurück. Zur Nummer über Europa und die EU macht man der Außenministerin Baerbock Konkurrenz und verkündet: „Italien hat jetzt eine rechtsextreme Regierung.“ Und es klinge auch besser „Faschismo Italiano“. FDP-Minister Christian Lindner giert nach richtigem Kabarett, weil ihn niemand scharf kritisiert, Jens Spahn und Sarah Wagenknecht sind voll im Visier. Letztere wird als stinkreich präsentiert mit eigener Villa im Saarland, eigenem Koch, eigenem Chauffeur und den Cocktail Kir Royal lässt sie auf Parteikosten anschreiben. Die Wagenknecht-Darstellerin ruft ins Publikum: „Ich bin Hybrid-Politikerin, links und rechts, pazifistisch und kriegerisch, populistisch und intellektuell, egal was sie brauchen, sie können mich schütteln, es fällt als Gesinnung heraus.“ So kann auch der Zeitgeist klingen: Weder satirisch, noch witzig, sondern einfach nur peinlich.

„Morgen lachen wir drüber!“ v.l. Nancy Spiller, Rüdiger Rudolph, Stefan Martin Müller, Timo Doleys, Frank Voigtmann, Caroline Lux© Chris Gonz

Warten auf Sternschnuppen am Kabaretthimmel

Ein Glanzlicht wird allerdings angesteckt, als sich die Distel in zwei Szenen den CDU-Politiker Friedrich Merz vorknüpft. „So wie der aussieht, ist er zu doof zu lügen. Dem glaub ich einfach. Das klingt nach diesem Hosenhändler aus Lünen, der nie die richtige Größe parat hat.“ Doch wie eine Sternschnuppe, so verglüht die Nummer am dunklen Himmel und der Zuschauer wartet vergebens auf die vielen weiteren Sternschnuppen aus der Riege der Bundesregierung, vornweg mit Kanzler Olaf oder die rot-grünen Parteivorsitzenden. Der Sternenhimmel bleibt dunkel, nur der Kinderbuchautor im weißen Hemd darf lachend mal über die Bühne schlendern. So ist die große Anzahl prominenter Politiker nach wie vor nur mit ihrer eigenen Realsatire in den Nachrichtensendungen und Talkshows zu erleben, aber nicht auf den Brettern der Distel-Bühne.

Niemand ist schuld und für nichts verantwortlich

In einer im Jahr 4037 spielenden dystopischen Schlussszene des Programms müssen die Menschen auf der Erde völlig neu anfangen wie einst in der Urgesellschaft. Und als Ursache wird unter anderem ausgemacht, dass das Klima und die Demokratie den Bach herunter gegangen sind und nicht etwa die naheliegende Gefahr eines immer näher rückenden Nuklearkrieges in Europa. Mit dieser Wahrheit soll das Publikum nicht verunsichert werden. Vielmehr wird dem Zuschauer der Song „Alle außer mir“ mit auf den Heimweg gegeben. Seine Hauptaussage besteht darin, dass der Bürger bei den Problemen im Land nicht mit dem Finger auf die anderen zeigen sollte, „die da sind Schuld“. Niemand ist verantwortlich für den katastrophalen Absturz der Wirtschaft und die Abwanderung der Unternehmen, für die riesigen Löcher im Staatshaushalt, für eine absurde Energiewende und unkontrollierte Migration, für eine tägliche Gefahr der Ausweitung des Krieges in Europa. „Schuld daran haben alle, alle außer mir“, so heißt die letzte Zeile, übrigens im Programmheft abgedruckt. Wenn alle oder keiner Schuld und Verantwortung tragen, können Baerbock, Lauterbach, Habeck und der große Aufklärer der Sprengung von Nordstream 2, Bundeskanzler Scholz, ja in aller Ruhe weiter regieren. Verantwortungslosigkeit als gesellschaftlicher Normalzustand.

„Distel“-Plakate von 1953, 1960 und 1990

Rückkehr zu den Anfängen der Distel

Nach 70 Jahren ist die Distel an den Anfang ihres Weges zurück gekehrt – als unterhaltendes Staats-Kabarett am Regierungssitz. Der Grimme-Preis wird nicht mehr lange auf sich warten lassen, der Satiriker Böhmermann hat ihn auch schon sechs Mal für sein „ZDF-Magazin Royale“ umgehängt bekommen. Falls, nur hypothetisch gesprochen, nicht genügend Zuschauer kommen sollten, könnte man mehr Berlin-Touristen von Rhein und Ruhr und Delegationen von Parteivorständen der Grünen und der SPD einladen. Und bei den Linken könnte man – so wie früher – den Besuch in der Friedrichstraße als Parteilehrjahr einführen.

https://distel-berlin.de/

Quelle:www.keusch-reisezeiten.de

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