Victor Brauner, Das Handtier, 1943, (re) Fotos: Jochen Littkemann, © VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Dem seit einigen Jahren in den Fokus gerückten Herkunftsnachweis für Kunstwerke und Kulturgüter widmet sich aktuell die wissenschaftlich basierte Provenienzforschung. Hundert Jahre nach dem „Ersten Manifest des Surrealismus“ (1924) gibt nun die Ausstellung „Max Ernst bis Dorothea Tanning: Netzwerke des Surrealismus“ in der Neuen Nationalgalerie hochinteressante Einblicke in die weitverzweigten Netzwerke dieser internationalen Kunstbewegung des 20. Jahrhunderts. Auf Sockeln und Wandtexten aller Exponate werden die Besitzverhältnisse chronologisch nachgezeichnet. An zwei Werken kann man die Forschungsarbeit exemplarisch verfolgen. Auf ihrer Rückseite ist über Etiketten, Stempel und Inventarnummern die Geschichte der Eigentümer dokumentiert.


Ausstellungsansicht, Foto: David von Becker, © VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Um es vorweg zu nehmen; Die Sammlung ist „sauber“. „Bei 54 Werken konnte ein NS-verfolgungsbedingter Verlust ausgeschlossen werden“, erklärt Provenienzforscherin Lisa Hackmann. Die Besitzverhältnisse jener Werke seien „für den Zeitraum zwischen 1933 und 1945 rekonstruierbar und unbedenklich“. Bei 42 Gemälden, Papierarbeiten und Skulpturen bestehen noch Provenienzlücken – nicht alle Wege und Stationen ließen sich trotz intensiver Recherche nachvollziehen. Doch auch hier gebe es, so Hackmann, „zum jetzigen Zeitpunkt keine Anhaltspunkte für einen verfolgungsbedingten Entzug“.
Anhand einer repräsentativen Auswahl von Gemälden und Skulpturen aus der Sammlung von Ulla und Heiner Pietzsch wurden seit Januar 2023 rund 100 Kunstwerke die bis 1945 entstanden, systematisch auf ihre Herkunfts- und Besitzgeschichte untersucht, um auszuschließen, dass sich NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut, insbesondere aus jüdischem Besitz, darunter befindet. Unter den Arbeiten sind zentrale Gemälde von Salvador Dalí, Yves Tanguy, Max Ernst, André Masson, Joan Miró und Dorothea Tanning, die das Ehepaar Pietzsch seit den 1970er-Jahren bis in die 2000er-Jahre hinein erworben und 2010 dem Land Berlin geschenkt hat und die der Neuen Nationalgalerie seitdem als Dauerleihgabe überlassen ist. Den Kern der Sammlung bilden Werke des Surrealismus und des Abstrakten Expressionismus der New Yorker Schule.


Leonor Fini, Zwei Frauen, 1939, Öl auf Leinwand, Foto: Jochen Littkemann, © VG Bild-Kunst, Bonn (li), René Magritte, Die Terrasse von Atahualpa, 1925/1926, Öl auf Leinwand, Foto: Jochen Littkemann, © VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Die Ausstellung zeichnet in drei Sektionen exemplarisch die ereignisreichen Wege der Gemälde und Skulpturen nach, die von Paris über Brüssel und andere europäische Städte, über die Jahre des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs bis ins mexikanische und US-amerikanische Exil reichten. Der Kreis der Surrealisten war geprägt durch seine komplexen Beziehungen, in denen sich Freundschafts-, Liebes- und Geschäftsverbindungen häufig überschnitten. Dementsprechend zirkulierten auch die Werke auf informellen Wegen. Die Besetzung Frankreichs durch die Nationalsozialisten ab 1940 zwang zahlreiche surrealistische Künstler ebenso wie Sammler- und Händler zur Flucht. Auch hier waren Beziehungen nützlich. Viele verließen Europa und emigrierten u.a. in die USA, andere erhielten kein Visum und mussten im unbesetzten Teil Frankreichs untertauchen. Manche konnten ihre Werke mitnehmen, andere mussten sie zurücklassen.


Dorothea Tanning, Spannung, 1942, Öl auf Leinwand, Foto: Jochen Littkemann, © VG Bild-Kunst, Bonn 2025 (li)Joan Miró, Der Pfeil durchstößt den Rauch, 1926, Öl auf Leinwand,Foto: Jochen Littkemann, © VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Diese von Ortwechseln geprägte Phase spiegelt sich unmittelbar in den Provenienzen der Kunstwerke wider. Auf unterschiedlichste Weise belegen die Biografien der einzelnen Objekte Freundschaften und Handelsbeziehungen, ebenso wie Verlust, Verfolgung und Neuanfang. Weit über die Einzelgeschichten der Werke hinaus eröffnen die Objektbiografien einen tiefen Einblick in die facettenreichen Netzwerke der surrealistischen Bewegung sowie in die großen politischen Herausforderungen der Zeit.



Max Ernst, Der Kopf des „Hausengels“, 1937, (li), André Masson, Massaker, 1931, (Mitte) Max Ernst, Gemälde für junge Leute, Fotos: Jochen Littkemann, © VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Neuen Nationalgalerie versammelt eine beeindruckende Auswahl von 26 Werken aus der Sammlung von Ulla und Heiner Pietzsch, darunter Max Ernsts „Düsterer Wald und Vogel“ (1927) und sein „Gemälde für junge Leute“ (1943), André Massons großformatiges „Massaker“ (1931/32), Leonor Finis „Zwei Frauen (1939), Joan Mirós „Der Pfeil durchstößt den Rauch“ (1926) oder Dorothea Tannings „Spannung“ (1942). Auch wenn man die meisten Kunstwerke bisher nur als hochkarätige isolierte Ausstellungsobjekte wahrgenommen hat, erscheinen sie jetzt in einem anderen Licht. Im Kontext mit ihrer Entstehung, den oft verwirrenden Werkbiografien und ihrem zum Teil häufigen Besitzerwechsel entwickeln sie sich vom Objekt zu einem Subjekt mit eigenem Lebenslauf und wechselvollen Schicksal.
Ergebnisse des Provenienzforschungsprojekts unter: recherche.smb.museum
Neue Nationalgalerie, Potsdamer Straße 50, 10785 Berlin
Max Ernst bis Dorothea Tanning: Netzwerke des Surrealismus – Provenienzen der Sammlung Ulla und Heiner Pietzsch