Lieber Herr Bürgermeister Wegner, lieber Herr Finanzsenator Evers, Lieber Herr Kultursenator Chialo,
diesen offenen Brief schreibt Ihnen nicht der Ex-Intendant der Komischen Oper Berlin, sondern ein – bis jetzt – stolzer Bürger der Stadt Berlin. Da Ihnen nicht bewusst zu sein scheint, welche katastrophalen künstlerischen und finanziellen Folgen der von Ihnen geplante Baustopp an der Komischen Oper Berlin hätte, halte ich es für an der Zeit, Ihnen zu erklären, welche Bedeutung die Komische Oper für Berlin und deren kulturelle Geschichte hat, um Sie vor den Gefahren Ihrer Pläne zu warnen.
Sie sind kurz davor, sich selbst kulturellen Vandalismus zuzufügen, und das an einem Gebäude, das eines der wichtigsten Opernhäuser und Musiktheaterinstitutionen der Welt beherbergt. Einem Theater, das die letzten 130 Jahre der Berliner Geschichte miterlebt und überdauert hat. Einem Theater, das die Gräuel des 20. Jahrhunderts überlebt hat. Einem Theater, das dem internationalen Ruf dieser, Ihrer, Stadt zu unschätzbarem Ruhm verholfen hat und die Kunstform Musiktheater auf der ganzen Welt revolutioniert hat.
„Der fliegende Holländer“(li), „Die Zauberflöte“(Mitte), „Die kleine Hexe“ (re)
Ich meine damit weder die unzähligen Künstler:innen, die bereits auf der Bühne dieses Theaters gestanden haben, noch meine ich das Genie von Künstlern wie Walter Felsenstein, die unseren Blick auf die Kunstform Oper für immer verändert haben – ich spreche vom Gebäude an sich.
Das Haus in der Behrenstraße ist ein Theater, das ich mehr liebe, als irgendein anderes Theater auf der Welt. Alle, die auf der Bühne dieses Hauses gestanden oder dort im Publikum gesessen haben, wissen, dass dieses Theater ein magischer Ort ist.
An diesem Ort schweben, tanzen und singen die Berliner Geschichte, Berliner Geschichten und Berliner Träume durch Raum und Zeit. Vielleicht verstehen Sie das nicht, da Sie drei meines Wissens nicht zum Stammpublikum der Komischen Oper in der Behrenstraße gehören. Vielleicht waren Sie sogar noch nie bei einer Vorstellung in diesem Theater. Im Gegensatz zu Millionen anderer Menschen. Millionen von Menschen wurden dort bislang in einer Vorstellung verzaubert, herausgefordert, unterhalten und beglückt.
1892 waren Tausende nach der Eröffnung des Hauses von der Architektur von Fellner und Hellmer begeistert. Tausende kamen nach dem Ersten Weltkrieg dorthin, um der Armut und dem alltäglichen Elend zu entfliehen, und flüchteten sich in die Illusionen und Fantasien, die dort über die Bühne tanzten. Tausende staunten während der explosiven Jahre der Weimarer Republik in diesem Theater über die offene, kosmopolitische Welt, die sich vor Ihren Augen auf dieser Bühne entfaltete. Tausende saßen in diesem Theater, während Berliner Juden zusammengetrieben und in Konzentrationslager geschickt wurden, und die Kulturlandschaft dieser Stadt sich für immer veränderte.
Tausende feierten hier die Befreiung der Stadt vom Hitler-Albtraum. Tausende saßen in einer geteilten Stadt in diesem Theater und wohnten der Geburt des modernen Musiktheaters unter der Leitung von Walter Felsenstein bei, und Tausende saßen in diesem Theater, als die Mauer fiel und Berlin plötzlich keine geteilte Stadt mehr war. Dieses Haus hat das alles miterlebt. All die Freude, all den Kummer. So viel Tod und Zerstörung. Aber auch die ganze Magie dieses Ortes. Dieses Haus IST Berlin.
Und trotzdem laufen Sie Gefahr, genau das zerstören.
Lassen Sie mich das ganz deutlich sagen: Niemand glaubt daran, dass am Ende eines vorläufigen zwei- oder dreijährigen Baustopps die Sanierung der Komischen Oper tatsächlich noch abgeschlossen wird. Die Kosten werden explodieren, das Budget wird unhaltbar sein, und schlussendlich wird die gesamte Sanierung gestoppt werden. Dann wird die Komische Oper gezwungen sein, im Schillertheater zu verbleiben, einer Interimslösung, die kein Opernhaus ist, keine Lagerkapazitäten und 250 Sitze weniger hat als das Stammhaus und darüber hinaus absolut nichts zu tun hat mit der Geschichte der Komischen Oper. Die Komische Oper wird von ihrer Heimat, ihren Geistern, ihrer Geschichte, und von ihrer Seele getrennt. -Sie wird dann langsam, aber sicher sterben.
„Messeschlager Gisela“ (li) „Don Giovanni“
Ein Opernhaus wie die Komische Oper kann es nicht überleben, gewaltsam aus seiner Heimat gerissen zu werden. Diese Oper und ihre Heimat in der Behrenstraße sind untrennbar miteinander verbunden. Das Haus ist die Oper und die Oper ist das Haus. Sie reißen damit eine Pflanze aus ihrem nährstoffreichen Boden. Die Folge: Sie verwelkt, stirbt und verrottet.
Wie Sie vielleicht wissen, stehe ich der entsetzlich schlecht durchdachten Antisemitismusklausel des Bundestages entschieden entgegen. Meiner Meinung nach ist das eine sehr gefährliche, problematische Resolution. Eines ihrer Hauptthemen ist die Notwendigkeit, in Deutschland an jüdisches Leben zu erinnern und zu feiern, wie dieses die Kulturlandschaft Berlins mitgeformt hat. Was das mit der Komischen Oper zu tun hat, fragen Sie?
„Falstaff“ , Soloabend Katherine Mehrling (Mitte) „Chicago“
Kennen Sie die jüdische Geschichte dieses Hauses? Wussten Sie, dass die Produzenten Alfred und Fritz Rotter dieses Theater retteten und bewahrten, und es während der Weimarer Republik zum wichtigsten Operetten- und Revuetheater in ganz Deutschland machten? Wussten Sie, dass beide 1933 aus Berlin verjagt wurden und mittellos im Exil starben? Wussten Sie, dass die größten jüdischen Operettenkomponisten des 20. Jahrhunderts allesamt in diesem Haus gewirkt haben? Leo Fall, Paul Abraham, Oscar Straus, Emmerich Kalman und ihre fast ausschließlich jüdischen Librettisten wirkten alle an diesem Theater. Wussten Sie, dass die größten Stars der deutschsprachigen Operettenwelt jüdisch waren und alle auf der Bühne in der Behrenstraße sangen, tanzten und spielten? Richard Tauber, Fritzi Massary, Gitta Alpar, Rosy Barsony und viele andere waren Weltmeister:innen ihres Fachs.
„Der Fiedler auf dem Dach“
Seinen weltweiten Erfolg verdankt das Haus in der Behrenstraße größtenteils jüdischen Künstler:innen. Das Haus war sozusagen der inoffizielle jüdische Showbiz-Treffpunkt Berlins und ein unabdingbarer Ort jüdischen kulturellen Lebens – ein seltenes Zeichen dessen, was in Deutschland möglich war und zukünftig möglich gewesen wäre. Ein Ort, an dem jüdische und deutsche Herzen zusammentrafen und ein gemeinsames Miteinander gestalten konnten. All das endete 1933.
Vielleicht können Sie meine Empörung darüber nachvollziehen, dass die Berliner Regierung in demselben Monat, in dem eine Resolution mit dem Ziel verabschiedet wird, jüdisches Leben in Deutschland zu schützen und die jüdische Geschichte und Kultur zu bewahren, erwägt, ein Theater zu schließen, wo die so wichtige jüdische Geschichte sich tatsächlich abgespielt hat.
Barry Kosky´s All-Singing, All-Dancing Yiddish Revue
Die Nazis versuchten, die jüdische Identität dieses Hauses auszulöschen, aber sie hat überlebt. Bis jetzt.
Ist die Antisemitismusresolution nur leeres Gerede oder verstehen Sie wirklich nicht, dass ein Theater wie die Komische Oper ein lebendiges Beispiel dieser jüdischen Geschichte ist, die Sie so dringend bewahren wollen? Oder ist die Komische Oper nur eine Zahlenfolge unter einer Budgetkalkulation, entbehrlich und lediglich ein finanzpolitisch lästiges Thema?
„Schwanda der Dudelsackpfeifer“ „Orpheus in der Unterwelt“
Die Ko-Intendanz der Komischen Oper hat Ihnen klar und deutlich die finanziellen Konsequenzen eines Baustopps dargelegt. Sie sollen nicht Thema dieses Briefes sein. Mein Appell bezieht sich auf das Gebäude und seine Geschichte. Das Gebäude und seinen Platz in Berlins DNA.
Ich bitte Sie inständig, zu verstehen, was sie da tun und einzusehen, welche ungeheuren Konsequenzen ein Baustopp für dieses großartige Haus hätte. Ich bitte Sie inständig, die derzeitigen Beschlüsse zu überdenken und die Fortführung der Sanierung zu ermöglichen.
Bitte schützen Sie unsere geliebte Komische Oper in der Behrenstraße und beenden Sie nicht das, was die Nazis begonnen haben. Lassen Sie nicht zu, dass das Ihr Vermächtnis ist.
Porträt Barrie Kosky und Szenenfotos aus einigen Inszenierungen der Komischen Oper in den letzten Jahren.
Fotos: © Archiv Berliner Umschau/Müller-Mertens